Design And Performance Lab

 

Der transmediale Tanz

 

Johannes Birringer

(c) 2003

 


Dem Andenken an Renato Cohen (1956-2003) gewidmet


Tanz als kulturelle Praxis postkolonialer Kommunikation?


Als "globalen Kunstwanderzirkus" hat ein Kritiker die heutigen Biennalen, Großausstellungen und Weltkulturfestivals bezeichnet, mit denen die verantwortlichen Kuratoren die Begegnung mit dem Anderen fördern wollen. Oft wird die Förderung aus staatlichen Mitteln bezahlt: Kunst als Entwicklungshilfe im Zeitalter ihrer technologischen Reproduzierbarkeit. Kunst, hier und anderswo, muss sich anpassen, und sie arbeitet so deutlich wie nie zuvor mit and durch Medien. Dieses durch interessiert mich hier, denn es sind die Methoden, mit denen sich vielleicht auch über das Animistische, das Kulturelle, die Trancebewegung in der Kunst durch Medientechnologien reden ließe.

Im Jahrbuch Tanzforschung 2003, als "Materialbuch zu einer Theorie der Praxis" vorgestellt, bezieht sich Johannes Odenthal auf die ideologische Rolle des Kurators wie auch auf die Ideologien der Konzeption und Struktur von solchen Weltkultur-Events oder internationalen Tanz- und Theaterfestivals. Er führt das interdisziplinär ausgerichtete IN TRANSIT Performancefestival im Berliner Haus der Kulturen der Welt als ein Laboratorium vor, als Forum für Dialog, Austausch und postkolonialen Diskurs in der postkolonialen Praxis. Ein solches Labor sei auf die spezifische Struktur und Arbeitsmethode seiner kulturellen Praxis hin zu untersuchen, denn das Arbeitssystem wie der Ort transportierten immer eine Bedeutung mit.

Die meisten der von Odenthal erwähnten Beispiele interkultureller Projekte provozieren Nachdenklichkeit, z. B. seine Behauptung, dass das ganz spezifisch lokalisierte Ritual der Karajá aus dem Amazonas-Gebiet in der Berliner Performance-Begegnung mit den Drag Queens BuBu & Akira aus Kyoto sich in einem transsexuellen und transnationalen Kontext wiederfand, und dass gerade dieses sich wiederfindende Ritual eine besonders gelungene Unterwanderung der eurozentrischen Diskurse und Rezeptionsbedingungen darstellte. Oder die Behauptung, dass die Koproduktion "Person to Person" (TanzKompanie Rubato und Jin Xing) die Überschreitung von Grenzen sowohl im Hinblick auf Interkulturalität als auch bezogen auf die Geschlechterspezifizität thematisierte. Bei seiner Besprechung der Arbeiten fällt allerdings auf, dass die Frage des Spielortes wie auch der kulturellen Verortung einer Performance-Technik nicht näher untersucht wird. Schließen wir daraus, dass sich Performance-Technologien (hier verstanden als Verknüpfungen von Techniken, Methoden, Produktionsprozessen und Diskursen) nicht örtlich festlegen lassen? Ähnliches deutete der brasilianische Theatermacher Renato Cohen einmal im Gespräch an, als ich ihn fragte, ob er und seine Kolleginnen und Kollegen digitale Technologien anders benutzen. Nein, lachte er, wohl wissend, dass ich auf Roy Ascott anspielte, der eine Zeit lang im tropischen Regenwald lebte, bewusstseinserweiternde Pflanzen aß und den Shamanen bei ihren Trance-Performances zusah, bevor er seine Theorie der feuchten Medien schrieb:
"No, we use the same computers and digital cameras, and the same software. The question of technology for me refers to the 'human technology' - not artificial or post-human, but phenomenological experience, our capacity to travel (in mind, spirit), to use intuition, visualization and a set of tools that we know from shamanism. We know that Roy Ascott studied shamanism as a technology when he came to Brazil. I'm not referring to the 'imaginary' path but to a scientific journey. In my creative work, for example my performances of 'Ka' and 'Victory over the Sun', I'm studying both, the technology (machinery) as a human extension, in the sense in which Marshall McLuhan defined media as extensions, and the inner technology of travel. I think this is a cognitive question, a question of consciousness, and also a political one, since this research is more developed and valorized in the East than the West. For us this consciousness is also linked to our modernist movement and antropofagia, the politics of incorporation."


Cohens Verständnis von Kunst und Bewusstsein, wie auch seine Verweise auf die Moderne, den russischen Konstruktivismus und den Surrealismus, beziehen sich nicht auf einen Ort, sondern auf das traveling, die Suche nach Gegenwärtigkeit im relationalen, verknüpften, paradoxen und weltöffnenden Konstruieren, der Trans-Mediatisierung als Prozess einer Nutzung von unterschiedlichen Praxen und Werkzeugen. Dies scheint mir nicht die von Odenthal gemeinte Unterwanderung der Moderne durch das autochthone Ritual zu sein. Was genau passiert, wenn die Karajá ihr traditionelles Ritual auf einer Bühne in Berlin aufführen und ihre eigene Kulturtechnik den Anderen zeigen? Darauf gibt er, was Technik, Wirkung und Rezeption betreffen, keine Antwort. Dieter Baumann und Jutta Hell (Rubato), die im selben Band zu Wort kommen und einen Praxisbericht über "Gender - Körper - Kommunikation" abliefern (Jin Xing kommt nicht zu Wort) , beschreiben eindrucksvoll den Probenprozess und die gegenseitige Aneignung des Bewegungsmaterials, des "Körpermaterials" . Hell und Baumann erwähnen dabei aber lediglich, wie sich der jeweilige Ort (Berlin, Shanghai) positiv oder negativ auf die Probenarbeit auswirkte; die spezifischen kulturellen Unterschiede der Situationen und kommunikativen Bedingungen für die Aneignung des Körpermaterials werden hingegen nicht theoretisiert; Jin Xings "asiatisch geprägte Art Bewegungen emotional aufzuladen", ihre Persönlichkeit, Ausstrahlung und Charisma werden als gegeben vorausgesetzt, aber abgesehen von dem biografischen, in keinen Erklärungszusammenhang gestellt.


Tanz-Technologien


Im Folgenden beziehe ich mich ebenfalls auf Laboratorien, allerdings sollen der Terminus Labor entmythologisiert und zeitgenössische Tanz-Technologien vor allem in Hinblick auf die Beziehungen zwischen Transmedialität und Transkulturalität untersucht und in einen postkolonialen Theoriekontext gestellt werden. Dass der Begriff Laboratorium (erst kürzlich vom Festival de Nouvelle Danse in Montréal, ähnlich wie bei europäischen Festivals, klangvoll in der Werbung eingesetzt) so populär geworden ist, mag auf die Wirkung der Auseinandersetzung zwischen Tanz und digitalen Technologien bzw. Medienkunst zurückzuführen sein, wobei wir innerhalb der Entwicklung von interaktiven Installationen immer häufiger die Arbeitsmethodik des Interaktions- oder Softwaredesigns beobachten: die Anfertigung der Systeme entsteht in einer Reihe von Prototypen, die getestet und dann wiederum verbessert werden. Der Testvorgang beschäftigt sich mit Funktionalität, nicht mit kulturpolitischen Fragen.

Natürlich brauchen wir Laboratorien, wenn solche Prototypen im Rahmen von Forschungsprojekten gebaut werden und der transmediale Tanz sich solcher Computertechnologien und Infrastrukturen bedient, wie sie die Ingenieure am MIT vorfinden und wie sie in jedem naturwissenschaftlichen und industriellen Forschungslabor in der entwickelten Welt vorhanden sind. Gleichwohl wäre der transmediale Tanz dann auch ein Produkt dieser Infrastrukturen der entwickelten Welt, und die Frage nach dem digital divide, also der Ungleichheit der technischen Infrastruckturen, wäre ausgespart. Wenn ich später auf das Labor zurückkomme, dann vor allem deswegen, um darüber nachzudenken, warum die Problematik der kulturellen Differenz, der kulturellen Hybridität, und der Dekolonialisierung - das wichtige Thema von "Tanz andersWo" - so wenig, wenn überhaupt zur Sprache kommt im Diskurs der Praxis von Tanz-Technologien. Dieser Diskurs, wie das neu erschienene Workshopbuch von Söke Dinkla und Martina Leeker "Tanz und Technologie: Auf dem Weg zu medialen Inszenierungen" programmatisch ankündigt, sei wegweisend und zeichne hier in der Darstellung der Laborversuche im Choreografischen Zentrum NRW ein inspirierendes Vorbild für Tanzausbildung und die Entwicklung einer neuen Ästhetik. Im Vorwort wird von einer kulturpolitischen Entscheidung gesprochen, den Raum der ehemaligen Industriekultur in eine Avantgardeplattform für Kunst und Design umzuwandeln, d. h. dem Tanz Bewegungsspielraum für den Umgang mit Technologien zu geben:


"Aufgrund der nach wie vor rasanten Entwicklung digitaler Techniken besteht hier ein besonderer Handlungsbedarf, denn die neuen Medien haben nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern vor allem den Blick auf unseren Körper verändert. Den Performing Arts kommt daher heute entscheidende Bedeutung zu: Sie haben die Möglichkeit ein Bild des Körpers zu entwerfen, das den aktuellen Veränderungen, die unseren Alltag bereits prägen, Ausdruck verleiht. Sie können imaginäre Räume schaffen, die unsere neue Wirklichkeit sinnlich erlebbar macht."
In ihrer Einleitung zur "Rhetorik und Didaktik des digitalen Tanzes", spricht Söke Dinkla auch konsequenterweise davon, dass wir uns heute in einer Kultur der Performativität, der handelnden Teilhabe (Interaktivität) befänden, in der


" […] die digitalen Medien zu identitätsstiftenden Maschinen werden. Daher besteht die aktuelle Herausforderung darin, die digitalen Medien als Kulturtechnik zu begreifen […]."


Diese Ankündigungen täuschen nicht darüber hinweg, dass im Mittelpunkt des Labors das Know-how steht, das Erlernen neuer intermedialer Techniken, das Einordnen der Interaktivität als choreografisches Phänomen und das "training of the body as tool", wie Gretchen Schiller es korrekt ausspricht. Eine ethnografische Feldforschung über die imaginären Räume und identitätsstiftenden Maschinen gibt es bisher nur in Ansätzen (in der Netzwissenschaft). Für Tanzforschung, die sich mit kulturellen und sozialen Merkmalen der neuen technischen Grundlagen und Produktionstechniken innerhalb der Prozesse kultureller Globalisierung auseinander setzen würde, fehlt sie bislang im wissenschaftlichen als auch im künstlerischen und pädagogischen Kontext. Dass sich Medien- und Theaterwissenschaftler, und vor allem auch Künstler aus den nichtwestlichen Kulturen in dieser Forschung engagieren, lässt sich bereits beobachten. Ich möchte auch erwähnen, dass fortschrittliche Universitäten, z. B. in Salvador, Bahia (Bahia Federal University) aber auch in Oslo, den Versuch wagen, interkulturelle Forschungsprojekte zwischen Tanzakademie und Medienwissenschaft, unter der Einbeziehung neuester online-Mediationspraktiken, zu fördern. Andrew Morrison, Medienforscher aus Zimbabwe, beschreibt in diesem Zusammenhang zwei Projekte ("Ballectro" und "Extended"), die an der Universität Oslo zwischen afrikanischen und skandinavischen Studenten durchgeführt wurden und maßgeblich die Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit betonen, aber eben auch die schwierige Frage untersuchen, ob lokale kulturelle bzw. religiöse Bedeutungen in virtuellen Welten abstrahiert und visualisiert werden können.

Ich schlage vor, ansatzweise ein methodisches Gerüst zu finden für das kritische Hinterfragen der Matrix Tanz-Technologien und Transmedialität. Der Subtext der Untersuchung ist das Unbehagen an neuesten Formen des Interface-Designs, insbesondere im Hinblick auf das auffällige Schweigen bezüglich des kulturellen Ortes, der kulturellen Inhalte und Bedeutungen, Identitäten und Differenzen, also der Bedingungen und Erscheinungsweisen, die in unserer Arbeit mit diesen neuen Design- und Kulturtechniken ausgehandelt werden. Diese Formulierung der Frage nach dem Interface-Design beziehe ich auf den transmedialen Tanz als eine Praxis, die die Schnittpunkte von expressiven Kulturen (Performance) und kulturellen Techniken (Technologien), charakterisiert durch den heterogenen Einsatz von unterschiedlichen Medien und Tanzsprachen, ausstellt und prozessiert, d. h. nicht bestimmte heterogene Tanztechniken in einen homogenen Tanzkörper zu verbinden und anzueignen vorgibt, sondern in einem immer von neuem zu konstituierenden Akt der Übersetzung oder des sampling zitiert. Damit will ich andeuten, dass der transmediale- und transkulturelle Tanz, den ich in Westeuropa beobachte, sich vornehmlich der Sampling-Methode bedient, d. h. einer wie auch im Konzepttanz anzutreffenden bricolagehaften, fließenden Vermischung von Zitaten, und nicht der von Cohen angesprochenen Bewusstseinswerdung, dem "inner technology of travel".

Wenn wir von Schnittstellen sprechen, auch gerade im zeitgenössischen Konzepttanz, stellt sich das Thema der Hybridisierung. Im engeren Sinn der Performance durch Medien, ist Hybridbildung hier nicht kulturelles Verhandeln, sondern technischer Prozess: Die digitalen Technologien berechnen und simulieren diesen Prozess bzw. sind zum Organisationsprinzip für Simulation, künstliche Bewegung und virtuelle Räume geworden. Die Simulation wirkt wiederum auf die Hybridisierung zurück. Es soll vorgeschlagen werden, weder primär - im Sinne der Semiotik - auf strukturelle und systematische Aspekte der Kommunikation im Tanz zu schauen, noch auf das sogenannte Subjekt der Performance oder die Verkörperung des Körpers im Tanz. Es geht mir also auch nicht um technologisch geprägte Körperbilder, sondern um methodische Vorstellungen von der Performanz der Hybridisierung, um die Transduktionen von technischen Prozessen und die Rückwirkungen auf kulturelle Erfahrung. Was ich nicht behaupten will, ist die Annahme, dass wir in jeweiligen Fällen bereits wissen, wie das Unwahrscheinliche in einer hybriden Tanztechnik hergestellt und kommuniziert sowie in die Dimensionen physischer, sozialer und kultureller Körpererfahrung sozusagen einverleibt wird, wie das Transmediale am oder vom Körper Spuren hinterlässt, die kulturell differenzierbar sind. Als Hybridbildung wäre ein solches Einverleiben oder Spurenlesen kein abschließbarer Vorgang, sondern eine immer neu sich re-konstitutierende Konstruktion. In diesem Sinne scheint mir das digital sampling eine treffliche Metapher für das Prozessuale der hybriden Techniken, denn die Sampling-Methode meint ja nichts anderes, als dass Klang-, Bild- und Bewegungsströme als temporalisierte Oberflächenzustände veränderbar kombiniert werden: es geht nicht um ihre Identität, ihr Sein.

Der Forschungsschwerpunkt einer noch zu leistenden, umfassenderen Analyse der Gegenwartspraxis in unterschiedlichen Produktionsorten, d. h. eben nicht nur im Westen, wäre demnach eine Fokussierung auf die Art und Weise, wie die technischen Prozesse innerhalb der Proben und Aufführungen/Austellungen jeweils spezifisch hybrid-kulturell oder hybrid-zitierend entwickelt werden und jeweils spezifisch auf Differenzen und Veränderungen in den kulturellen Körpertechniken bzw. ästhetischen Inszenierungsstilen rückwirken (oder auch nicht). Der hybride Tanz, von dem ich hier ausgehe, beruht nicht nur auf der relativ ständigen Migrationsbewegung und Dislokation seiner Produzenten und den Begegnungen mit dem Anderen und dem Anders-sein, sondern schöpft vor allem auch aus dem ständig wachsenden, globalen Archiv der verfügbaren Bewegungsformen, Trainingsformen, Schnitt-Techniken, Sample-Techniken, und virtuosen Oberflächen der Bildmedien (Videoclip, Film, Fernsehen, MTV, Animation, Internet), also auch dem gesamten Pool der Inszenierungen des Oberflächendesigns, die Teil haben an unseren kommunikativen Konventionen. Man muss sich nur vor Augen halten, dass seit etwa 20 Jahren in vielen Teilen der Welt die gleitenden Formen des music television permanent gesendet und reproduziert werden. Wenn wir von Tanztechniken sprechen, sprechen wir immer schon von Rekombinations- und Übertragungstechniken und dem Konventionieren (im Sinne Flussers), also auch der ständigen Veränderung von historisch, kulturell und schulspezifisch (Master-Teacher-spezifisch) codierten Strukturen, Regelwerken, Produktionsprozessen, Aufführungskonstellationen und Rezeptionsbedingungen. Die Tänzer einer Kompanie, oft aus vielen unterschiedlichen Teilen der Welt kommend, sind ja ebenso Rezipienten des Hybriden wie sie die hybriden Techniken produzieren lernen.

Diese überaus komplexe Vielfalt der Übertragungen in der von uns globalisert gedachten Welt ist natürlich nicht in den Griff zu bekommen. Alle Kulturpraktiken, die Entwicklungen unserer Tools und symbolischen Ausdrucksformen wie auch gerade unserer Zeitwahrnehmung, sind der Technizität und damit der Technisierung der Kultur geschuldet, wenn wir Heidegger so verstehen, dass nicht die Gestelle (die technischen Apparate) selbst gemeint sind, sondern die Weise, in der wir von ihnen durchdrungen sind. Die neuen Medientechnologien bedingen neue Konstruktionstechniken für die Inszenierungen der Tanzkulturen. Tanztechniken, also der gesamte bewegungstechnische Pool der zeitgenössischen Tanz- und Theaterszene inklusive aller historisch weiterentwickelten und trainierten Körpertechniken (vom klassischen Ballett, Kabuki, Bharathanatyam, Afrikanischen Tanz hin zu Gesellschaftstanz, Breakdance, Capoeira, Yoga, Gyrokinesis usw.), können übernommen werden. Inwieweit die Produzierenden direkt mit einer digitalen Apparatur (Kamera, Computer usw.) arbeiten, kann nur im Einzelfall untersucht werden, wobei es allerdings gerade hier spannend wäre zu unterscheiden, welche kulturellen Tanzformen z. B. für Motion Capture und Animationsverfahren aufgezeichnet werden, welche sich nicht anbieten. Eigentlich werden diese Körpertechniken von unseren Computersoftwares und Motion Tracking Programmen gar nicht auf ihre kulturelle Spezifität hin gelesen. Alle Aufzeichnungen und Berechnungen sind mathematischer Natur. Das digital sampling als technischer Prozess löst auf, was an kultureller Kontinuität aneinander gewachsen war, und das mapping schafft wiederum neue Figuren-Visualisierungen und liquide Architekturen.


Ein Beispiel: während eines Motion Capturing Workshops in Chelmsford, England, arbeiteten die australische Company in Space und die britische Gruppe Igloo an einem telematischen Experiment, bei dem die Tänzerinnen Hellen Sky und Ruth Gibson in Echtzeit die von ihnen generierten Bewegungsdaten über das Internet für ein morphogenetisches mapping verwenden lassen (John McCormick und Bruno Martelli sind die Programmierer). Ein mapping, das die Daten nicht auf Animationen von Figuren überträgt, sondern auf plastisch-räumliche Volumina, gefaltete, verdrehte und dynamisierte Raumkörper bzw. Körperräume, die zwischen ihnen entstehen und sich ständig topologisch verändern, zusammenzurren, anschwellen, wuchern, auseinander fallen oder verschmelzen. Ich weiß nicht, inwieweit biomorphes mapping oder Maschinen identitätsstiftend sein könnten, da die Subjektfigur hier vollständig aufgelöst und transformiert erscheint. Manche Tanztechniken, wenn wir an die überaus komplexe Polymetrik im indischen Kathak, oder in westafrikanischen und afro-brasilianischen Tanzformen denken, sind allerdings nur schwerlich zu notieren und zu simulieren. Bei hybridisierten Formen werden die Maschinen vor allem falsch rechnen. Aber was heißt das schon, manche Softwareprogramme wollen den Körper auch gar nicht erkennen, sondern nur Konturen, Geschwindigkeit, Volumen, Veränderungen im Raum usw. Einige methodische Ansätze sollen nun genauer besprochen werden, bevor ich mit einer kleinen Untersuchung hybrider Tanztechnologien abschließe.


Hybridität


Als Rahmenbedingung eines methodischen Ansatzes wäre nachzuprüfen, inwiefern der zeitgenössische Tanz als tendenziell hybrid einzuordnen wäre, d. h. inwieweit im internationalen Tanz- und Theatergeschehen die Vielfalt der Praxis des Tanzes mit der allgemeinen sozialen, ethnischen und kulturellen hybriden Wirklichkeit zusammenfällt. Wenn wir von zeitgenössischem Tanz sprechen, was meinen wir damit? Den Tanz, der auf europäischen Bühnen aufgeführt wird, oder auch den Tanz in Zimbabwe, in Salvador und Kalkutta? Wie steht es um den Import/Export, den globalen Kunstwanderzirkus, und die Ökonomie der pirate copies (auch im Kontext der Open Source Software-Diskussion, bei der digitale Ästhetik grundsätzlich als offene Kommunikationsform ohne Autorenschaft und Copyright verstanden wird)? Was wird in der Hybridität geteilt? Gehen wir im internationalen Bereich der Tanzforschung davon aus, dass ein breites kulturtheoretisches Konzept formulierbar ist, das sich auf bestimmte Regionen (z. B. Osteuropa, Lateinamerika, Südostasien, Westafrika usw.) beziehen ließe, oder generell auf globale Prozesse, oder auf bestimmte Aspekte der Tanzpraxis, die regionale Techniken verhandeln und ihrerseits partikulare Phänomene für eine größere Pluralität der Sichten aufzeigen? Ist nicht mein theoretischer Bezugsrahmen, der Hybridität, Transmedialität und digitale Objekte umfasst, unweigerlich bedingt durch die Orte meiner Arbeit in den USA und Europa?

Meine Erfahrungsgrundlage sind internationale und interkulturelle Workshops und Koproduktionen; sie spiegelt sich wider in den durchaus bestehenden Marktzwängen der internationalen Koproduktionstechnik und den Bemühungen der transmedialen Produzenten, Schnittstellen zwischen tänzerischen, theatralischen und musikalischen, aber auch sprachlichen, literarischen und grafischen Medien neu zu artikulieren bzw. zwischen physischen high-perfomance-Techniken, elektronischen, filmischen und textuellen Konstrukten zu vermitteln. Mit high performance ist der Zwang ausgedrückt, immer neue Verbindungen herzustellen (wie wir es auch bei einem Altmeister wie Merce Cunningham beobachten können, der 2003 ein Konzert mit der Band "Radiohead" auf dem New Yorker Next Wave Festival aufführt, dann im Londoner Tate Modern eine Installation unter der gelben Spiegelsonne des skandinavischen Raumkünstlers Olafur Eliasson tanzt). Hi-tech-high-performance ersetzt den Begriff des tänzerisch Virtuosen.

Ich folge den Bedenken meiner lateinamerikanischen Kollegen, wenn ich darauf hinweise, dass die mit dem Begriff Hybridität verbundenen Termini Schwierigkeiten bei der Anwendung bringen, da sie Unterschiede hinsichtlich ihrer Intention und Extension wie auch Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten mit benachbarten Termini aufweisen. Zudem ist der Begriff Hybridität aus unterschiedlichen Wissenschaftskontexten abgeleitet und bezieht sich auf verschiedene Objektbereiche bzw. Prozesse. Generell aber stellt Hybridität einen Akt transkultureller Kommunikation dar, und ich werde ihn im Sinne Flussers benutzen und annehmen, dass jede neue Konventionierung etwas Unwahrscheinliches herstellt, mit dem ich nicht unbedingt übereinkommen kann, mit dem definitorische Probleme auftreten, die eine transdisziplinäre Vorgehensweise erfordern. Hybridität ist mittlerweile ein zentraler Begriff sowohl in der kultur- und medientheoretischen als auch in der theaterwissenschaftlichen Diskussion und Theoriebildung und ist auf sehr vielen Anwendungsgebieten zu finden.

Die vorgeschlagene Position behauptet, dass hybride Systeme sich durch Komplexität auszeichnen und gleichzeitig auf unterschiedliche Modelle und Verfahren zurückgreifen. Anstatt auf Differenz, Altarität, Dialogizität (Bachtin), Translokation (Appadurai, Bhabha), rhizomatisches Denken (Deleuze/Guattari) und die von Judith Butler und Sybille Krämer entwickelten Prinzipien von Performativität, Verkörperung und ähnliche theoretische Begriffe anzuspielen, möchte ich verschiedene Ebenen skizzieren und mich dann auf Produktionstechniken beschränken.

" Hybridität kann verstanden werden als Begegnung, Kombination, Vermischung von Kulturen, als kulturelle, ethnische, religiöse Vielfalt;


" Hybridität bedingt den Einsatz verschiedener Systeme: Medien und sonstiger Zeichensysteme (Internet, Video, Film, diverse Kommunikations-formen, virtuelle Welten, Analog- und Digitaltechniken usw.), Ästhetiken (Literatur, Theater, Musik), Mischbereiche (Internet-Hypertext, Video-/Film-Installationen, Sound-Environments), Produkte (heterogene Gegenstände, Objekte, Textilien), Geschmackskulturen, Kunst (Malerei, Skulptur, Design), Architektur, Wissenschaft (Naturwissenschaften, Biotechniken, künstliche Intelligenz), Linguistik, Körper, Gender;


" Hybridität betrifft vielfältige Organisationsformen: Städte (vgl. Trans-urbanismus), Wirtschaftsformen, Unternehmen, Ökologie, Natur, Soziologisch-Gesellschaftliches, Religionspraxis, Politik, Mode, Lebensstil, Subkulturen usw.

Auf diesen Ebenen interessiert uns das Phänomen Hybridität in Verbindung mit dem Objektbereich Tanztechnologien, welcher wiederum sehr differenziert zu sehen ist. Wir könnten ihn zunächst beschreiben als Begegnung von Tanz und Technologie, Interface von Kulturtechniken, die von spezifischen Technikgeschichten des Tanzes geprägt sind, als kulturelle, ethnische, religiöse Vielfalt usw. und dann näher untersuchen als Transmedialität zwischen Maschinen und Körpern, immer auch im Hinblick auf aktuelle Globalisierungsprozesse und die Diskurse, die sich mit Medientechnologien und der Netzwerkgesellschaft befassen.

Zunächst meint der Begriff Hybridität kulturelle Phänomene als nomadische Begegnung mit dem Anderen und dem Anders-sein, als ein recodifiziertes, innovatives Interface zwischen dem Lokalen und dem Fremden. Wenn wir prozessuelle Hybridität als Manipulation von Codes, als neue Konventionierung verstehen, können essentialistische Reduktionen auf eine eigene, einzelne, homogene Bezugskultur vermieden werden, wobei beim re-writing und Synkretisieren von Traditionen die kulturelle Identität oder gar Authentizität solcher Traditionen angenommen worden ist. Somit können heterogene Prozesse der Hybridisierung als Dekonstruktion und Recodifizierung geltender offizieller Regelwerke und Machtdiskurse über Verhaltensnormen begriffen werden. Dem Moment des Aushandelns, der Performativität im Sinne einer die konstitutiven Kategorien (wie kulturelle Identität, Tradition usw.) in Frage stellenden Wiederholung, kommt in einem immer von neuem zu konstituierenden dritten Raum eine wichtige Bedeutung zu, wenn die Infragestellung als stete Interaktivität und Unterbrechung des Hegemonialen gesehen wird.

Dieses dialogische Aushandeln ist ein Akt der Öffnung gegenüber dem Anderen bei gleichzeitigem Sich-dem-Anderen-Aussetzen, was ein höchst komplexer und spannungsvoller Akt ist. Die Hybridität impliziert eine Revision der alten Dichotomien und Unterscheidungen, einen Akt der Übersetzung zwischen verschiedenen Spielregeln, Repertoires und Kompetenzen, der sich auch im Ansatz z. B. in einigen prämodernen Diskursen findet und sich im modernen und postmodernen Diskurs zahlreicher Kulturen entfaltet. Die Vermischung von traditionellen und postmodernen Elementen ist von besonderem Interesse für uns, wenn wir die heutigen Prozesse nicht mehr linear, sondern auch als Verkettung zeitlich heterogener Entwicklungen denken. Hybridität kann als jener Prozess verstanden werden, der an den zentralen Schnittstellen oder Rändern einer Kultur stattfindet, wobei unter Rändern nicht Ausgrenzungen gemeint sind, sondern die Entstehung neuer kultureller Formationen. Unter Schnittstellen und Peripherien müssten zentral auch die postkolonialen Kulturen verstanden werden, die sich ihrer spezifischen hybriden Dynamik (Kreolisierungen) schon viel länger bewusst sind, als wir es uns im Westen jetzt ausgedacht haben wollen. Postkoloniale Hybridisierung spielt maßgeblich auf unser westliches Verständnis von Mechanismen wie Appropriation, Assimilation und Inkorporation an, gerade auch in mediendynamischer Hinsicht, da wir glaubten, die technologischen Avantgarde-Laboratorien zu besitzen. Was die westlichen Laboratorien lernen können, ist die in postkolonialen Praktiken selbstverständliche intermediale, synkretistische Transformation von verschiedenen Kulturtraditionen und Techniken. Der Westen hat das Labor nicht erfunden, wie es auch Antonio Benítez-Rojo sehr schön erklärt in seinem Buch über die Karibik (The Repeating Island). Auch die Karajá führen schon lange keine autochthonen Rituale mehr auf.


Hybridität und Tanztheater


Im letzten Jahrzehnt hat sich in den Theaterwissenschaften zunehmendes Interesse an der Interkulturalität entwickelt. Hierbei bedingt die Untersuchung der Hybridität die Berücksichtigung mehrerer Aspekte. Wenn auf der epistemologischen Ebene von einem Konzept der Hybridität ausgegangen wird, können seitens der Produktion die kulturellen Größen, die in einer Aufführung enthalten sind, auf der Ebene der kulturellen Referenz beschrieben werden, d. h. innerhalb der regionalen Kultur (z. B. in Brasilien in Bezug auf die afro-portugiesische und japanisch-brasilianische Kultur) oder außerhalb des regionalen Kulturraumes. Bei diesen Markierungen handelt es sich um eine Vernetzung verschiedener Codizes, die eine Kultur in sich trägt (kulturtheoretische Ebene). Auf der Ebene der Aufführung lässt sich untersuchen, wie diese kulturellen Größen in die Semantik und Pragmatik eingehen, welche Übersetzungen hier stattfinden und wie diese codiert sind. Hier hat beispielsweise die Übersetzung sozialer Konventionen ins Medium Theater ihren Ort, und beim Tanz insbesondere die Übersetzung von Körperbildern, Verkörperungen (Körperpraxen, Geschlecht, Sexualität, Erotik), und psychischen Körpergrenzen in raumzeitliche Bewegungssprachen, d. h. die dem Tanz eigenen künstlichen Codes der Materialität und Kinästhetik von Rhythmen, Energien, Dynamiken, Intensitäten, Körperkontrollprinzipien usw.

In dieser Herangehensweise wird man schwerlich bei der Annahme eines rein abstrakten und selbstreflexiven Tanzes stehen bleiben (wie es oft im Diskurs über Cunninghams bloße Bewegungssprache geschieht), sondern den postmodernen Tanz (gerade bei Cunningham fortschreitend von Filmtechniken und Computersoftware geprägt) im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Tanzformen wie auch der symptomatisch hybriden Live Art/Performancekunst hinsichtlich seiner Vermittlungssysteme interpretieren wollen: denn auf der Ebene der Vermittlungssysteme kann ansatzweise artikuliert werden, inwieweit Tanztheater gesellschaftliche und soziale, vergangene oder aktuelle Probleme transportiert, wie sich dieser Transport vollzieht und mit welchen lokal-gebundenen oder losgelösten Techniken.
Allerdings ist das Begreifen der verschiedensten Einschreibungen der Hybridität in die genannten Ebenen, wie auch das Verhältnis der Altaritätsbeziehungen zwischen der Ausgangs- und der Fremdkultur, ungeheuer schwierig, da die Rezeptionserforschung von hybriden Theaterformen (gar an verschiedenen Orten einer Produktion/Tournee) unweigerlich Feldforschung und genaueres Wissen um die kulturellen und religiösen/spirituellen Hintergründe und Wirkungen der Tanzsprachen notwendig macht, wenn man diese denn als lokal gebundene Sprachen begreift und nicht als kontingente Zeichen, die sich nur über das jeweilige, im theatralen Kontext konstruierte signifikatorische Netzwerk lesen lassen.

Es bietet sich an, die Arbeit im Labor selbst zu beobachten, um die praktische Annäherung an hybride Techniken in den körperlich erarbeiteten Prozessen und den Anordnungen der Zusammenarbeit zwischen Choreografen/Tänzer und Designer zu erleben und das Vermittlungssystem zu erkennen, mit dem die unterschiedlichen Konkretisationen der Syntax, des Rhythmus', der Bewegungsformen, der Gewichtsverlagerungen, der Musikalität, des Zusammenspiels mit der Szenografie (Raum, Kleidung, Licht, Farbe, Requisiten u. a.) konstruiert werden. Dabei gehe ich davon aus, dass die meisten professionellen Tänzer heute nicht nur in einer bestimmten kanonisierten Technik/Ästhetik ausgebildet sind, sondern verschiedene Formensprachen und Vokabulare aufrufen bzw. aufnehmen können. Die Frage, ob die Hybridisierung spezifisch kulturell codierte Techniken oder Gesten verschiebt, deformiert oder unkenntlich macht, bleibt offen. Sprechen wir allerdings von Transmedialität, müssen wir die Entwicklung einer transmedialen Kultur der Wahrnehmung voraussetzen, die hybride Präsentationen nicht mehr (nur) formcodiert, sondern über andere Sinnlichkeits- und Sinnebenen erfahrbar macht.


Transmedialität


Transmedialität soll sich hier als zentraler Begriff nicht nur auf den Austausch zwischen zwei medialen Formen beziehen, sondern auf die Pluralität medialer Möglichkeiten, bei denen unterschiedliche hybride Formen - wie die Beziehungen zwischen diversen Medien im engeren Sinn (Video, Film, Fernsehen, computergenerierte Animation usw.) sowie die Beziehungen zwischen theatralischen, tänzerischen, musikalischen, textuellen, sprachlichen, szenografischen und digitalen Ästhetiken - erfasst werden. Das Präfix trans weist auf die fließende Dimension eines transmedialen Austauschprozesses hin (z. B. zwischen Bewegung, Rhythmus, Gestik, elektronischen, filmischen und sonischen Projektionsmedien, Sensorik, Licht usw.) wie sie gerade beim interaktiven und computerunterstützten Tanz mit seinen Feedback-Mechanismen heute geschieht, wobei Interaktionsdesign und die Konstellationen der (relativen) Steuerbarkeit besondere Wichtigkeit erlangen.

Diese Transmedialität beinhaltet also nicht einen Synkretismus bloßer Überlagerungen medialer Repräsentationsformen, sondern - wie bei der Hybridität - technisch-ästhetisch bedingte Prozesse, die nicht unbedingt zu einer Synthese, sondern zu einer ambivalenten, dissonanten Emergenz von Artikulationen führen, die nicht vorhersehbar sind. Diese Emergenz ist das kontingente Element vor allem in interaktiven und telematischen Tanzsystemen, die anwesende mit abwesenden Tänzern, reale mit virtuellen Räumen verbinden sowie Wechselbeziehungen zwischen dem vernetzten Environment und den Rezipienten durch körperliche Interaktion ermöglichen.


Von transmedialem Tanz sprechen wir dann, wenn mehrere unterschiedliche mediale Mittel miteinander innerhalb eines ästhetischen Konzeptes konkurrieren, wenn digitale Prozesse (Bewegungsanimation, sampling, real-time Manipulation der Bild- oder Soundprojektionen usw.) deutlich werden bzw. diese als (technisches) Verfahren oder als Zitat vorkommen, wenn ein Dialog medialer Mittel stattfindet und eine metamediale Ebene entsteht. Diese Definition von transmedialem Interaktionsdesign ist nicht mehr mit dem traditionellen Begriff von Choreografie zu fassen. Die Programmierung eines emergenten, interaktiven und responsiven Raums für die Aufführung oder Ausstellung umfasst verschiedene Ebenen (Sensoren, Kameras, Tracking-Systeme, Mikrofone usw.), die das Medieninput für die Computer-Hardware und die Controller-Software für die digitalisierte Datenverarbeitung der körperlichen Interaktion liefern. Beim Output treffen wir im weitesten Sinn auf komplexe Information, auf vielschichtige digitale Objekte.

Das Design für die technischen Abläufe und Bedingungen eines interaktiven Theaterraums, der eine solche transmediale Performance ermöglicht, ist ein komplexer Prozess, der die Aktionen der Darsteller impliziert und mitführt bzw. auf diese Aktionen reagiert und sie wiederum transformiert in einer ständigen Austauschbewegung. Das Design ist eine Art virtuelle Dramaturgie, welche die tänzerischen, spielerischen und musikalischen Möglichkeiten der Performance in einem digital kontrollierten, wenngleich kontigentem Raum anlegt. Dabei macht die interaktive Software gewisse Vorgaben: es gibt bestimmte festgelegte Parameter (Raum, Geschwindigkeit, Bewegungsqualität, Gewicht, Kontrast usw.), und der Computer kann bestimmte Bewegungs- und Klangerkennungen durchführen, aber das Interessanteste hierbei ist, dass der Computer nicht wirklich weiß, was er sieht und erkennt. Dies ist gleichzeitig, im Kontext der neuen interaktiven Systeme, der paradoxe Aspekt für die Analyse einer Transmedialität, die medienspezifische technische Übertragungsprozesse über die vertrauten kulturellen Codes, Subjektbegriffe, und ästhetisch-choreografischen Werte oder Bedeutungen hinaus transportiert. Das Einsetzen von verschiedenen technischen Verfahren ist nicht nur ein formaler Akt, sondern auch ein semantisch-kultureller.


Lizzie in the Sky


Es lässt sich also behaupten, dass der interaktive Performanceraum, ähnlich wie das postkoloniale Theater, als Schnittpunkt von Kulturen und kulturellen Formen charakterisiert ist durch den heterogenen Einsatz von Medien. Das Design von Interfaces schafft neue körperliche Techniken und neue kulturelle Konstruktionen von Körper-, Raum- und Zeitwahrnehmung. Kulturell-hybride Bewegungstechniken und Rhythmen, zusammen mit verschiedenen sozio-kulturellen, religiösen, spirituellen oder politisch-ästhetischen Bedeutungsassoziationen, treffen auf Wechselwirkungsprozesse medialer Übertragungstechnologien, und was hier im "Labor" an chemischen Transformationen abläuft, können wir bis jetzt nur in Ansätzen skizzieren, da uns die Laborberichte aus den Proben von Shobana Jeyasingh, Akram Khan, Wim Vandekeybus, Company of Space, Grupo Nucleodanza, Rui Horta, Iztok Kovac, Hsiu-Wei Lin, Meg Stuart, Bill T. Jones, Michael Laub/Remote Control Productions usw. fehlen. Der herzzerbrechende "Total Masala Slammer", das scharf-gewürzte Gemisch, das Helmut Ploebst so brilliant in seinem Beitrag als Paradigma-Titel des interkulturellen Patchworks in den Raum stellte, sei ein Symptom für die Überschreitung des Tanzspezifischen selbst. In diesem Stück integriere der Choreograf indische Kathak-Tänzerinnen in einen zeitgenössischen Tanz über die Bollywood-Populärfilmkultur und Goethes leidenden Werther, wobei es hier gerade nicht um exotische Ausstellung und ästhetischen Kolonialismus gehe, sondern um eine Form der Intermedialität, die den (immer schon interkulturellen) Modern Dance wie den Kathak als eigenständige Elemente in einen Handlungskontext nebeneinander stelle. Ploebst führte Beispiele aus der frühen Avantgarde des 20. Jahrhunderts (Dada, Futurismus, Bauhaus, usw.) an für seine These, dass es Vorläufer der heutigen intermedialen Konstruktionen im Tanz gäbe, die auf ein wichtiges Strukturprinzip hinwiesen, nämlich die Tendenz im zeitgenössischen Konzepttanz zur Überschreitung seiner eigenen kulturellen und technischen Konventionen. Anstelle eines Ausstellens von exotischen Körpern entwickle der heutige Tanz Gegenkonzepte und Diskurse, die die tanzkulturellen Grenzen erweitern und den internationalen Austausch auf der interkulturellen Ebene fördern.

 


Abb. 1a: Company in Space (Hellen Sky, John McCormick) mit Igloo (Ruth Gibson, Bruno Martelli): "Sentient Space", 3DVR Welt, 2004

Abb. 1b: Company in Space mit Igloo: "Sentient Space", 3DVR Welt, 2004

 

 

Ploebsts optimistische Theorie sollte auch mit dem alten Autorenbegriff des Choreografen aufräumen, denn im Diskurs über Tanztechnologie geht es um eine andere Funktionslogik des Designs, die aus kollaborativen Prozessen stammt und Kenntnis verschiedener Programmiersprachen im Austausch mit choerografischen und konzeptionellen Strategien voraussetzt. Eine an Transmedialität interessierte Tanzwissenschaft kann demnach den Begriff medial nicht mehr auf das Objekt Tanz und seine technischen Konventionen einschränken. Sie sollte ihren Performance-Begriff vielmehr auf vielfältige Formen von Technologien der kulturellen Kommunikation entgrenzen. Transmedialität ist wie Hybridität nicht nur instrumentell als Interpretation des Tanztheaters heranzuziehen, sondern agiert zugleich als metatextuelle Instanz der Reflexion der Grenzen des Theaters. Transmediale Performances, gerade auch wenn sie den Apparat und die Wirklichkeitserzeugung im Theater reflektieren, schaffen einen anderen Begriff von Theatralität. In den Labors, in denen die neuen Prototypen des transmedialenTanzes entwickelt werden, bedienen sich die eben genannten Künstler, Künstlerinnen und Gruppen der verschiedensten Materialien und Verfahren, von der filmischen Schnitt-Technik und Montage, Sampling (elektronische Musik, Datenbanken), Motion Capture, Physical Computing, den Genres des Fernsehens und der Videospiele, wie denen der Philosophie und der Mystik bis hin zu kybernetischen, soziologischen, naturwissenschaftlichen und architektonischen Modellen, die eine digitale Organisation des Systems fördern. Als ich vor kurzem beim V2 Media Lab in Rotterdam zu einem User Test eines solchen Systems von Angelika Oei/René Verouden und ihren Programmierern eingeladen war, hatte das System bereits einen Namen ("Lizzie"), war aber noch nicht ganz ausgereift.

Was passiert nun, wenn diese Verfahren nicht mehr der Bewegungsführung, Sprache, Handlung, und Ausdruck der Tänzer oder Schauspieler untergeordnet sondern selbstständig agierende Medien sind? Wenn das System Lizzie anfängt zu schweben und seine eigene Kombinatorik zu konstruieren? Wenn der Körper nicht mehr im Zentrum der Wirklichkeitserzeugung, der Bewegung oder Sprache steht? Mit der Entwicklung der interaktiven Performancesysteme stößt der oben entwickelte Ansatz an seine Grenzen, denn die digitalen Design-Prozesse eröffnen variable Konstruktionen von Wirklichkeit (artifical worlds, virtual reality, computergenerierte Bilder, Telepräsenz) und Wahrnehmung, die ohne Bezug auf den Menschen, den Körper entstehen können. Es ginge um die Performativität der Maschinen und technischen Übertragungen, die die Physis des Menschen übersteigen wie auch den Ort, an den vernetzte Übertragungen anschließen.


Grob verdeutlicht: Im postkolonialen Ansatz bildet der Körper samt seiner Konstituenten gerade im Kontext der aktuellen Theoriebildung einen zentralen Untersuchungsgegenstand. Körper wird als hybrides und mediales Konstrukt der Ränder verstanden und es werden Themen wie Repression, Ausschluss und Unterdrückung, die Konfrontation zwischen Begehren und Strafen, zwischen den Dispositiven der Sexualität und Macht, zwischen einer symbolischen und einer imaginären Ordnung usw. behandelt. Im Anschluss an Foucault ist die Behandlung von Körper, Norm und Begehren, ihren Widersprüchen, Interrelationen und Abhängigkeiten, ausgehend von komplexen gesellschaftlichen Strategien (Macht und Sexualität) vorrangig gewesen. Der Körper fungiert als Spurenensemble, als Geschichte, als Erinnerung dessen, was sich in ihm einschreibt. Damit war Körper der Ausgangs- und Produktionsort von Prozessen der Sinnstiftung und -streuung, in seiner eigenen Materialität wahrgenommen und als Handlung, als Sprache gebraucht.

Der Körper als kulturtheoretische Kategorie im postkolonialen Kontext bildete die Hardware für Materialität, die mediale Darstellung der Kolonialgeschichte von Erinnerung, Einschreibung, Speicherung, Unterdrückung, Folter, Manipulation, Verstoßung sowie den Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen. Der Körper war sein Agent, er begann spätestens dort zu agieren, wo die Sprache als Kommunikation versagte. Der Körper blieb letztes mögliches Refugium der Identität - Ort der Verdichtung von Erinnerung, Begehren, Sexualität, (Ohn)Macht. Der Körper stellte in seiner Materialität, mit seiner Geschichte, mit seinem Wissen ein eigenes Mittel dar, sein eigenes Medium und nicht Funktion von etwas. Diese anthropologische Sichtweise (derer sich auch die Body Art bediente) fordert die Materialität des Körpers und sein Körper-Wissen, sie macht ihn/es zum bevorzugten theatralen Darstellungsobjekt, wobei mit Körper nicht nur der menschliche Körper gemeint sein musste. In den Arbeiten der argentinischen Gruppe Periférico de objetos (z. B. "Máquina Hamlet", "Variaciones sobre B", "El hombre de arena", "Zooedipus"), oder denjenigen von Robert Wilson, Jo Fabian, Tony Oursler und Johan Kresnik können es auch Objekte oder Puppen sein, die zu Körpern werden, die den Körper der Theatralität ausmachen.

Diese anthropologische Theatralität, und die damit verbundene Lesbarkeit, tritt in den interaktiven Performance-Systemen zurück, wenn digitale Wirklichkeitserzeugung und Übertragung der Entwürfe von "Theatralität" (Körper) oder virtueller Welten eingesetzt werden, d. h. wenn die Bühne selbst als Setting aufgelöst wird. Wo vorher der Körper als Materialität, als Träger von Wissen, das sich im Körper einschreibt oder von diesem aus produziert wird, gar als Konstrukt verstanden wurde, also auch als Konstrukt, das sich durch Iteration, Aneignung und/oder Verwerfung bildet und stets offen, nomadisch und unabschließbar bleibt (im Sinne Judith Butlers), disintegriert die technische Interaktion die Repräsentation des Menschen bzw. verändert die Beziehung zwischen Mensch und Environment dahingehend, dass die technischen Prozesse ihre eigenen Effekte, Spielregeln und Inszenierungen von Wirklichkeit produzieren. Durch die Verbindung und Hybridisierung von Virtualität und Wirklichkeit, und die Einbeziehung des Betrachters/Users in den interaktiven Austausch, wird die kulturelle Funktion der Performance als Darstellung unterbrochen.

Tanzforschung als Bühne oder Oberfläche betrachtet werden, auf der sich kulturelle Prozesse, Sinnstiftung und -streuung in Form von Spuren niederschlagen. Wichtig wären im postkolonialen Zusammenhang die Spuren bzw. -Residuen, die in der heutigen transmedialen Schnitttechnik noch lesbar sind. Wir sind herausgefordert, die neuen interaktiven Performance-Systeme daraufhin zu untersuchen, wie sie hybride Wirklichkeiten und digitale Objekte (z. B. durch das mapping der Bewegungsdaten) in der Performanz der technischen Prozesse erzeugen. Gerade die Telekommunikationstechnologien (Telepräsenz) sind hier von wichtiger Bedeutung, denn sie ermöglichen hybride Performances, die nicht mehr an einen Ort und Raum gebunden sind. Es steht zu erwarten, dass interaktive Technologien und Telepräsenz, sowie der ganze Komplex der digitalen "Postproduktion", die Konventionierung des Unwahrscheinlichen stetig forcieren: Technische Prozesse produzieren neue Bewegungssprachen und Körperformen, die erst aus der Hybridisierung von virtuellen und realen Objekten entstehen. Die kulturellen Dimensionen dieser Prozesse müssen nunmehr herausgearbeitet werden, denn Interaktion und Virtuelle Realitäten bedeuten ja nichts anderes als die erkenntnisttheoretischen Bedingungen der Möglichkeiten, dass etwas zu handeln, zu existieren beginnt. Es sind die praktischen Bedingungen der Imagination.


Untersuchung der Perfomancetechniken


Abschließend nehme ich kurz Bezug auf Akram Khans "Kaash" (Premiere: London, 2002), ein Beispiel für kulturelle Code-Verschiebung, und auf das telematische Tanzprojekt "Flying Birdman" (Internet 2002).

Ziel der Arbeit mit seiner Kompanie, sagt Akram Khan, sei die Beziehung zwischen
"Western Modern dance techniques and the traditional South Asian dance form Kathak. The creative emphasis is on the structural and mathematical elements that comprise each dance style. The desired aim is the development of a new and innovative movement language, Contemporary Kathak."


Der experimentelle Ansatz soll in Aufführungen mit hohem Qualitätsanspruch das Publikum ("a wide diversity of audiences from all cultural origins") sowohl unterhalten als auch herausfordern. Das gelingt Khan sicherlich, wobei die Hybridisierung der kulturell unterschiedlich codierten Vokabulare in seinem digitalen Verfahren die inhaltlichen, religiösen, emotionalen und erzählerischen Dimensionen der Geschichte der Götterikonen (Ganesha, Krishna, Shiva) in "Kaash" fast völlig implodieren lässt, d. h. die Abstrahierungen entwurzeln den Kathak - das Einswerden mit dem dargestellten Gott durch ekstatische Fußarbeit und überaus komplexe Fusion von getanzten Rhythmuszyklen, Gesang, Musik und ragas - zu Gunsten einer für den westlichen Modern Dance ungewohnt virtuos-schnellen, hypnotisierenden, faszinierend präzisen und explosiven Addition von Bewegungskombinationen (zur elektronischen Musik von Nitin Sawhney und John Oswalds "Spectre" in der Kronos Quartet Version auf Plunderphonics). Die Gottheiten sind mathematische Strukturprinzipien: Khan abstrahiert den bereits abstrakt gewordenen modernen Kathak (verglichen mit klassischen indischen Tanzelementen), indem er die Zusammenhänge weiter in Molekularteile auflöst und mathematisch variiert. Indem er die Dreidimensionalität der indischen Technik reduziert (u. a. die zentrale Fußarbeit auf einen Oberkörper-Oberflächendesign mit vielen komplexen Verdrehungen verschiebt) und seine Tänzer im diffusen Halblicht vor Anish Kapoors gemalten Zitaten des abstrakten Farbexpressionismus (Rothko) eher andeutet, wie in einer undeutlichen Kameraeinstellung, nimmt er allerdings Eingriff in die Narrativität (Kathak heißt ja: jemand, der eine Geschichte erzählt) und Expressivität, mit der das Ikonische und Heilige der Geschichten von den Göttern erzählt wurde und auch heute noch in den nächtelangen Konzerten der klassischen Hindusthani-Musik erzählt wird.

Die perfekte Balance des Kathak zerbricht. Khan sucht nach einer gegenwärtigeren Form; er subtrahiert die für den Kathak typischen rhythmischen (und rituellen) Fußtechniken, insbesondere das ekstatische und polymetrisch komplexe Stampfen, die ausgeprägte Fußarbeit die den Rhythmus erst generiert. Er subtrahiert die Mimik, den expressiven Gesichtsausdruck. Und er schneidet die rhythmische Performance von der Live-Musik ab, d. h. die musikalische Basis (tablas, Perkussion) und das vokalisierte Zählen der Rhyhmusfiguren sind gesampelt und über Computer eingespielt. Die ragas (Steigerungen) entfallen. Was er beibehält, sind die Armfiguren, Drehungen, und die gats, bei denen der Tänzer aus den Drehungen heraus in einer Tanzfigur plötzlich innehält. Formal gesehen zerschneidet die Aufführung von "Kaash" die indischen Codes; dem westlichen Modern Dance werden ungewohnte rhythmische Körperverdrehungen, mudras, tranceartige Spannungsbögen und energetische Explosionen, aber auch meditative Momente, hinzugefügt.


Abb. 2: Akram Khan Company: "Kaash", 2002


Khan produziert einen nicht fassbaren Remix, der dem westlichen Publikum allerdings affektiv die Ahnung des verlorenen Ritus vermittelt, und er ist todernst bei der Sache. Im Vergleich zu "Kaash" setzt Michael Laubs "Total Masala Slammer" den Modernen Tanz, neben der Brillianz des ikonischen Kathak-Solos seiner Tänzerin (während der Pause aufgeführt), eher der Parodie, der Lächerlichkeit aus. Da gibt es unüberbrückbare Gegensätze bei Laubs Kompanie: die indischen Kathak-Tänzerinnen, der Tabla-Spieler Nakul Mishra und der Sänger Bireshwar Gautam (an berühmten klassischen Schulen ausgebildet) haben rein gar nichts mit den New Yorker und skandinavischen Tänzern gemein, und die New Yorker scheinen weder mit Goethes Werther noch mit Laubs selbst verfassten Witz-Geschichten etwas anfangen zu können oder wollen. Die indischen Tänze fallen gleichsam aus dem Rahmen und werden zu Zitaten, ohne dass wir wissen können wie unterliegende Bedeutungsebenen in Bezug auf deutsche Romantik und hochexpressiven schauspielerischen Überfluss im Bollywood-Kino verstanden und rezipiert werden. Immer wieder gibt es Überlagerungen. Die Texte von der Liebe werden von ihren Sprechern getrennt und hinzitiert; Texte werden gleichzeitig auf deutsch und englisch gesprochen und damit zum Kauderwelsch; die indische Musik der Kathak-Tänze und die Sinnlichkeit ihrer Bewegungskraft, besonders das äußerst komplexe Zusammenspiel zwischen Tabla-Spieler und Tänzerfüßen, werden ausgeblendet und von elektronischer Popmusik in den Kitsch getrieben, und so enden auch alle in den Himmel gereckten Liebesgesten und rollenden Augen der indischen Männer im Kitsch. Kulturelle Unterschiede im Verhältnis zur romantischen Liebe werden zu melodramatischem scratching, "Total Masala Slammer" zum bewusst gemixten Cocktail der zynischen Verachtung oder zum großen Versuch, transkulturelles Multimediatheater als Hysterienspiel zu inszenieren.

Bei "Flying Birdman" handelt es sich um Überschneidungen zwischen verschiedenen Medientechniken und Räumen; auch hier ist die Ebene des Zitats für Inhalt und hybride Bewegungsstruktur ausschlaggebend. Das Telepräsenz-Projekt, bei dem ich für das Produktionsdesign verantwortlich war, wurde am 25. November 2002 um 23 Uhr (GMT) als erste öffentliche Aufführung der ADaPT-Ensembles im Internet vorgestellt, unter Teilnahme von etwa 40 Künstlern und Tänzern an gleichzeitig sieben verschiedenen Orten. Nach zwei Jahren Probenzeit initiierte "Flying Birdman" eine ADaPT Serie (Monday Night Live), die die Zuschauer, sowohl offline und online, an solche transmedialen Kommunikationsformen des Tanzes heranführen wollte.

Das digitale Verfahren für "Flying Birdman" besteht aus einer sich fortpflanzenden Loop-Erzählung oder Spirale, die die virtuellen Spielräume aus den Video und Audio Streams der jeweilig an entfernten Orten in zehn aneinander gereihten Szenen zusammen agierenden Spieler verknüpft. Die entstehende Geschichte gleicht einem Film, der in Echtzeit geschnitten wird. Es handelt sich um eine transmediale Choreografie, die gleiches Gewicht auf verschiedene digitale Objekte legt, die in wirklichen Räumen mit Kameras, Computern, und Mischpulten generiert und ins Netz übertragen werden. In computertechnischer Sprache würde man sagen, dass mehrere Programme gleichzeitig laufen. Die Tänzer und Musiker, an ihren verschiedenen Orten, sehen sich selbst und diese Objekte, die im live re-mix der Performance und in Rückkopplung mit empfangenen Signalen die Bewegung der Geschichte beeinflussen, die vom Fliegenden Vogelmenschen scheinbar beschrieben wird. Die Beschreibungen sind Stimmen, die in verschiedenen Sprachen und Rhythmen gesprochen von Ort zu Ort durch die telematische Aufführung wandern, sich verändern, sowohl von den Tänzern direkt als auch als voice over intoniert und durch die digitalen Techniken distribuiert bzw. durch Filter zusätzlich manipuliert werden. Als Sprachen werden chinesich, koreanisch, spanisch, englisch und deutsch benutzt; dazu kommen die portugiesischen Passagen im Chatroom.

 


Abb. 3a: ADaPT, Sylvana Christopher bei einer Probe für "Flying Birdman", telematisches Tanzprojekt, 2002


Abb. 3b: ADaPT, "Flying Birdman", telematisches Tanzprojekt, 2002


Die vernetzten Räume werden zu einem Performance-Klangraum, in dem die vermischten und sich entwickelnden Geschichts-Objekte (Bild- und Klangströme) von den Teilnehmern als emergent, d. h. manipulierbar, zerbrechlich, degradiert, verzögert, und durchaus halluzinatorisch, erlebt werden. Als Kompositionstechnik verwendet "Flying Birdman" in den ersten fünf Szenen die Kopplung von Filmmaterial (vorher aufgenommen), Tanzmaterial (live) und Rezitation (live), und in den letzten fünf Szenen die direkte Interaktion zwischen Tänzer-Bewegung (live) in Zusammenarbeit mit Kameraführung, Klangaufnahmen (Mikrofone, Synthesizer, usw.), Stimmen, Text und grafischen Elementen (Chat). Der spiralförmige Rhythmus der Szenenfolge beruht auf der Idee der Kombinatorik (recombinant poetics) und ist der Verknüpfungsform im japanischen Renga (einer spiralartigen Lyrikform) nachempfunden.

Im Hintergrund der Dramaturgie liegen ebenfalls kulturelle Zitate, die sich nicht auf den Tanz sondern auf die filmischen Räume beziehen, z. B. die riesige Steinspirale "Spiral Jetty" (1970) des Land-Art Künstlers Robert Smithson, die im Großen Salzsee in Utah immer wieder unter der Wasseroberfläche verschwindet, unsichtbar wird, und nur nach anhaltenden Trockenperioden wieder auftaucht. Das von uns entwickelte Skript sampelt das ständig als Loop wiederholte Rezitativ aus einer obskuren Videoinstallation von Vito Acconci "Body Building in the Great Northwest" (1975), während andere Filmeinstellungen Bilder des Abfalls, des Abtransports von Überresten des World Trade Centers auf die Fresh Kills Deponie in Staten Island zeigen, sowie rostende Industrieanlagen, Autofriedhöfe, die Wüste. Die fiktive Figur des Flying Birdman gleicht einem Bergarbeiter, der nach Arbeit unter Tage, und nach langer Zeit, wieder an die Erdoberfläche zurückkommt und nicht berichten kann/will, was er gesehen haben mag. Die tänzerische Erfindung dieser Figur durch die telepräsenten Mitspielerinnen ist jeweils unterschiedlich. Das heißt aber gleichzeitig, dass keiner der Mitspielenden die Bewegungen der anderen kennt oder vorausahnen kann. Die verschiedenen Stimmen des Audio Streams sind nicht identifizierbar, verortbar, d. h. Bewegungsbilder, Filmbilder und Tonbilder sind eigenständige Phänomene. Sie können deshalb auch nie eindeutig auf einen kulturellen Träger zurückweisen, sie gehören niemandem, sondern sie verbinden sich gleitend in dem Gesamtgewebe, mitsamt den technischen Charakteristika des Mediums (Verzögerung, Echo-Feedback, Degradierung der Bildqualität, white noise usw.).

 

Abb. 4: ADaPT, "Flying Birdman", telematisches Tanzprojekt, iVisit Plattform, 2002

 

Online Besucher, die sich per Webcam und iVisit-Plattform in das Geschehen einklinken und ihrerseits Bilder, Klänge oder Texte senden, werden in das Kommunikationsgewebe inkorporiert. Wir arbeiten mit zwei unterschiedlichen Telekommunikationstechnologien; die von den brasilianischen Mitspielern benutzte iVisit Plattform (mit geringerer Bandbreite) ist leichter zugänglich. Das brasilianische Portal (der Chatroom des Corpos Informaticos Ensembles) und das Interface der frei erhältlichen iVisit-Software mit seiner offenen Architektur der Interaktivität bildet das transkulturelle Modell dieses Projekts, wobei gerade die offene Präsenz des iVisit mit seinen immer wieder auf der Oberfläche auftauchenden und absinkenden (oder gefroren zurückbleibenden) Bildfenstern, seiner unkontrollierbaren Bewegung, zu einer Parabel des Virtuellen wird.

Das Paradoxe am telematischen Tanz ist schließlich auch die Tatsache, dass man keine echten Bilder dieses Events dokumentarisch verwenden kann, dass man sehr wenig behaupten kann, denn was die Tänzer oder Zuschauer an den verschiedenen Orten gesehen und erlebt haben werden, ist jeweils unterschiedlich an die Situation, an die Konfiguration der Studios gebunden, in denen die Bild-Text-Ton-Gefüge gleichzeitig neben- oder übereinander projiziert entstehen, bzw. an die jeweilige Benutzeroberfläche, die die online Besucher sich aufbauen, um die Ströme zu erleben. "Flying Birdman" als Netzwerk-Tanz ist wie ein Spiral Jetty, ein schwimmender Nicht-Ort, der vorübergehend möglich wird, aber ins Nichts führt. Die miteinander agierenden Tänzer berühren sich nie, sondern projizieren ihre Bewegungen als Bilder in einen nichtlokalisierbaren, immateriellen Datenweltraum, der - trancehaft - keine Erinnerung hat. Diese trancekulturelle Arbeit lässt sich jederzeit wiederholen.

Ob sie der von Cohen angesprochenen "inner technology of travel" nahesteht, kann ich nur bedingt behaupten, denn ich selbst kenne die bewusstseinserweiternde Trance der Schamanen, die sich den Geistern und Ahnen öffnen, nicht. Vielleicht haben sich die Grenzen bei meinen Mitspielern und Mitspielerinnen verschoben, oder es verschiebt sich bei einer solchen telematischen Anordnung transitorischer Bewegungen ein Teil des westlichen Technologiesgestells. Was zurückbleibt, ist eine vage Ahnung dessen, was sich in diesen Prozessen ereignen mag. Bei "Flying Birdman" ist es weder Parodie noch der ernsthafte Versuch, wie bei Akram Khan, Shobana Jeyasingh oder Rubato, eine neue zeitgenössische interkulturelle Tanzsprache zu konstruieren. Der Körper ist allerdings nicht mehr das Essenzielle dieser Technik, sondern differenziert sich in der Datenströmung, die produziert wird gleichsam als Entbergung. Dieses Entbergen von indeterminierten Beziehungen ist heute eine Thematik des affektiven digitalen Erfahrens, einer neuen digitalen Phänomenologie, bei der hybridisierende kulturelle Prozesse als digitale Echtzeit-Prozesse einen Raum der Animiertheit und des Fließens bilden. Er ist nun aber keine Halluzination, sondern entsteht durch Bewegung, durch Bewegungsdaten und Dramaturgien, die über Distanzen hinweg Interaktion hervorbringen, den Raum zum Tanzen bringen, virtuelle Zustände durch Handlung bewegen. Auf diese Weise lässt sich Transmedialität als soziale Bewegung verstehen, denn sie verknüpft und motiviert, d. h. sie bringt uns gegenseitig dazu, die Einbildung unserer Entfremdung als gemeinsam veränderbar zu proben.


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Johannes Birringer is a choreographer and artistic director of AlienNation Co., a multimedia ensemble based in Houston (www.aliennationcompany.com). He has created numerous dance-theatre works, digital media installations and site-specific performances in collaboration with artists in Europe, North America, Latin America, and China. He is the author of several books, including Media and Performance: along the border (1998), Performance on the Edge: transformations of culture (2000), and Dance Technologies: Digital Performance in the 21st Century (forthcoming). After creating the dance and technology program at The Ohio State University, he now directs the Interaktionslabor Göttelborn in Germany (http://interaktionslabor.de) and the Telematics DAP Lab at Brunel University.