Design And Performance Lab

 

 

 

 

Tanz im Kopf / Dance and Cognition

Jahrbuch Nr. 15, Gesellschaft für Tanzforschung

Edited by Johannes Birringer und Josephine Fenger
Münster: LIT Verlag, 2005

ISBN 3-8258-8712-x

(click here to read english press release)

 

Das Jahrbuch Tanz im Kopf (Jahrbuch # 15, 2005) intendiert, den Anschluß der deutschen an die internationale Tanzforschung zugunsten eines intensiveren Austausches zu finden, eine Öffnung, die internationale, interdisziplinäre und interkulturelle Aspekte integriert.

Dazu gehört die Berücksichtigung von internationalen Autoren, die ihre Artikel an der Seite der Beiträge von GTF-Mitgliedern präsentieren. Gleichzeitig soll mit dem Teil des Jahrbuchs, der den Anschluss der Tanzforschung an neue Untersuchungsmodelle von Bewegung und Kognition in den Neurowissenschaften in den Blickpunkt rückt, ganz bewusst ein internationales Fachpublikum angesprochen werden. Eine breitere Leserschaft und eine stärkere Rezeption/Diskussion aller im Jahrbuch veröffentlichen Essays soll auch dadurch erzielt werden, dass 6 der 18 Beiträge in englischer Sprache veröffentlicht werden. Insgesamt umfasst das Buch 20 Artikel: eine der beiden Einleitungen der Herausgeber Johannes Birringer (Interaktionslabor Göttelborn/Nottingham Trent University) und Josephine Fenger (Max Planck Institut Berlin) wird ebenfalls in englischer Sprache verfasst sein, um in den genannten internationalen Kontext der Forschungsbeiträge einzuführen sowie dem Interesse, das dem diesjährigen Jahrbuch-Thema aus vielen unterschiedlichen Autorenländern entgegengebracht wurde, Ausdruck zu verleihen (Beiträge und Abstracts gingen u.a. aus folgenden Ländern ein: Deutschland, Frankreich, Schweiz, Österreich, Kroatien, Holland, Grossbritannien, Indien, USA, Venezuela, Australien; Anfragen kamen zusätzlich aus Portugal, Italien, Kanada und Brasilien).

ABSTRACTS der deutsch-sprachigen Artikel werden auf englisch bzw. diejenigen der englisch-sprachigen Autoren auf deutsch veröffentlicht werden.

Nach Ankündigung des Buchthemas "Tanz im Kopf/Dancing in the Brain" wurden den Herausgebern bis zum Ende des Herbstes 2004 45 Vorschläge zugesandt, dazu wurden Verhandlungen mit weiteren Autoren geführt, und insgesamt etwa 50 Beiträge in das Spektrum der möglichen Themenuntersuchungen gerückt.

Nach sorgfältiger Prüfung der interessantesten und wissenschaftlich bzw. künstlerisch bemerkenswertesten Vorschlagskizzen wurden nach der Endauswahl im November achtzehn Autorenbeiträge zum Thema des Jahrbuchs eingeladen. Unter diesen 18 Beiträgen sind auch mehrere in Ko-Autorschaft verfasste Artikel. Die anfänglich in fünf Buch-Abschnitte eingeteilten Artikel decken ein breites Spektrum der von der GTF geförderten und die Mitgliedschaft repräsentierenden Forschungsgebiete ab, wobei der letzte Abschnitt ("Dance and Cognition") die schon oben angedeutete Brücke schlägt zu jüngsten, den Tanz betreffenden Forschungsentwicklungen in den kognitiven Neurowissenschaften, der Psychologie, Biologie, sowie den durch die neuen Medien-Technologien bedingten experimentellen Konvergenzen zwischen Computerwisssenschaft, künstlicher Intelligenzforschung, Robotik, und Visualisierungs- und Beobachtungstechniken in der Medizin.

Das Jahrbuch repräsentiert dem Jahresthema entsprechende aktuelle Tendenzen der Tanz- und Performanceforschung und versucht, möglichst viele interessante der äußerst heterogenen Aspekte des Jahresthemas, die Dichotomie und die Relation von Körper und Geist (= Intellekt UND Bewusstsein) bzw. Körper und Hirn betreffend, zu integrieren.


GESAMT-ÜBERSICHT DES BUCHINHALTS:

Introductions / Einleitungen

Josephine Fenger: "Welcome to Dancylvania"
Johannes Birringer: "Dancing and Cognition"

I Tanzgeschichten
Andrea Kottow u. Robert Graf: Vernunfts-Denken und Körper-Denken
in kulturellen Koordinaten um 1900
Yvonne Hardt: Zum Diskurs über den Modernen Tanz in den
kultursozialistischen Publikationen der Weimarer Republik

II Lyrik und Tanz
Ralf Georg Czapla: Getanzte Dichtung - gedichteter Tanz

III Tanzpädagogik
Claudia Fleischle-Braun: Tanz und Salutogenese

IV Tanzästhetik und Theorie

Kirsten Maar: Forsythes Konzepte des imaginären Raums
Janine Schulze: Du musst Dir ein Bildnis machen, oder Tanzen ist Denken
Maren Witte: The Art of Getting Lost
Renate Bräuninger: Tanz im Muskelgedächtnis und als Bilderschrift
Wiebke Dröge: Stille Post: Kommunikation in der Tanzimprovisation
Royona Mitra: Cerebrality: Rewriting Corporeality of a Transcultural Dancer

V Dance and Cognition
Annette Hartmann: Mit dem Körper memorieren: Betrachtung des
Körpergedächtnisses im Tanz aus neurowissenschaftlicher Perspektive
Beatriz Calvo-Merino, Daniel Glaser, Julie Grèzes, Dick Passingham,
Patrick Haggard: : Seeing what you can do: the dancer's brain
Corinne Jola & Fred W. Mast: Mental Imagery Processes in Dance
Ivar Hagendoorn: Einige methodologische Bemerkungen
zu einer künftigen Neurokritik des Tanzes
Catherine Stevens & Shirley McKechnie: Choreographic Cognition
Scott deLahunta & Phil Barnard: What's in a Phrase?
Ottmar E. Gendera: - BrainDance/Tanz an der Schnittstelle zwischen
Bewusstsein und Bewegung
Marlon Barrios Solano: Designing Unstable Landscapes:
On Improvisational Dance within Cognitive Systems


Autorenbiographien (deutsch oder englisch)
engl. bzw. deutsche Abstracts

BESCHREIBUNG

Der Inhalt des Buchs umfaßt:

- Den Tanz in der Wissenschaft (Dance and Science/Dance and Cognition) und die Untersuchung von neurowissenschaftlichen Aspekten, des "Hirns-das-tanzt" - ein Spektrum, das vom Verständnis des "Körpergedächtnisses" (Hartmann), der Imagination, der messbaren und nicht messbaren Wahrnehmung bzw. Beobachtung bis zur künstlerischen Reflexion von Aspekten der Emergenz, Komplexität und künstlicher Intelligenz (Barrios-Solano) thematisiert ist.
- Die Wissenschaft vom Tanz (Aspekte der tanzbezogenen Forschung in z. B. Literatur und Geschichte). Dies betrifft z. B. den Beitrag über Anita Berber als Lyrikerin und Tänzerin und den das Körper- und das Vernunftsdenken einander gegenüberstellende kulturhistorische Projekt von Kottow/Graf. Ein weiterer Beitrag (Hardt) untersucht das Spannungsverhältnis zwischen intellektuellen Diskursen über den Tanz und einer als emanzipatorisch begriffenen Körperpraxis in der Weimarer Republik, wobei auch generell die Problematik in der Beziehung zwischen Bewegung und Sprache (vgl. Bräuninger u.a.) analytisch ins Spiel gebracht wird.
- Die wissenschaftliche Reflexion aktueller ästhetischer, künstlerischer, pädagogischer, therapeutischer etc. Tendenzen im Tanz sowie die Betrachtung der Tanzrezeption, also des Zuschauer-Kopfes, als Bestandteil des Tanzes. Hierzu gehören z. B. der Beitrag über Tanz und Salutogenese und die Überlegungen zum Konzepttanz, aber auch die Untersuchungen der "mentalen Bilder" und "motorischen Vorstellungen" ("Mental Imagery Processes" bei Jola/Mast), des ordnenden und "unordnenden" Kopfes (bei Wiebke Dröge) sowie die Beobachtungs-Analyse der kleinsten Bausteine (deLahunta/Barnard), der "Phrasen," eines Tanzes: "W hat modes of thinking/analysing with or without verbal articulation occur in the context of different "parsings" (viewing movement sequences and segmenting them into smaller units)?" Letzterer Aspekt hat, neben seiner künstlerischen Bedeutung, auch methodologische Signifikanz für die Tanzanalyse.
- Eine transkulturelle Perspektive behandeln die Beiträge von Witte und Mitra:
dieKonfrontation westlicher und orientalischer Tanzästhetik, -produktion und -rezeption, vor allem aber auch der von Mitra in ihrem teilweise autobiographischen Essay angelegte postkoloniale Ansatz der Selbst-Reflektion einer Tänzerin, die ihr indisches Tanztraining als Ent-körperung (sie bezeichnet die hochcodierten Tanzformen ihres Mutterlands als "cerebral") kritisch hinterfagt und sich dann in Grossbritannien, in der Auseinandersetzung mit Contact Improvisation und Physical Theatre, mit neuen Körperfahrungen ("sexual") und Körperbildern definiert und identifiziert,

Dies führt weiter zum Verständnis des Tanzes als einem nicht nur kulturellen und ideologischen, sondern generell einem Bewusstseins-"Biotop", das Tänzer und Tanz-Zuschauer gemeinsam gestalten. Ein Beispiel eines solchen "Dancylvania" bietet Maars Reflexion von Forsythes "imaginärem Raum." Die Evolution einer Perzeption von
"ecological relations," eines interdependenten Improvisations-Systems, ist sehr eindringlich in dem Beitrag des Choreografen Barrios Solano angesprochen, wobei Barrios Solano's Beschreibung der interaktiven digitalen Improvisationskunst als emergente Lebenswelt voller Widersprüche zu sein scheint, wenn er, von einer post-humanen Epistemologie ausgehend, kognitive Prozesse in biologischen Mind-Body und künstlichen Systemen gleichermassen unter den Gesichtpunkten einer "embodied systemic generativity" und eines "dynamic contingent design" (von Menschen und Maschinen programmierte Räume?) zusammenfasst.

Als direkteste Verbindung zwischen dem Gedanken (Konzept) und seiner tänzerischen Umsetzung sind der Improvisation, einem Schwerpunkt in den Überlegungen des AK Kunsttanz 2004, zwei Beiträge (Jola/Dröge) gewidmet und so auch die Jahrestagung zweier Arbeitskreise zum Thema repräsentiert.

Ebenso dem wichtigsten "Rückweg", der Abstraktion des Tanzes in Form von Notationen, die als wichtiges Dokumentations- und Reflexionsmedium von Tanz ein zentrales Bindeglied zwischen Tanz + Kopf repräsentieren. Bräuningers Beitrag dokumentiert, wie Notation und Körper-zu-Körper-/Kopf-zu-Kopf-Transformation des Tanzes einander ergänzen.

Das Diskussionsforum "Dance and Cognition" ist einzigartig in der Fülle kontrastierender und mit einander in Verbindung stehender Beiträge, die zum ersten Mal konzentriert darlegen, wie das Thema (und dazu die jüngsten Forschungsergebnisse der Untersuchungen des Gehirns und der Kognition nach der Entdeckung der "mirror neurons") zum Einen aktuell in der Tanzforschung, zum Zweiten bereichsübergreifend - und besonders im Bereich der Neurowissenschaften - prägend in der wissenschaftlichen Agenda präsent ist. Hagendorn bietet dazu auch weiterführende Überlegungen zur zukünftigen Entwicklung einer "Neurokritik" an, wobei seine Anmerkungen u.a. auf einen vielbeachteten, mit William Forsythes Compagnie in Frankfurt durchgeführten Workshop "Dance and the Brain" (17. Januar 2004) verweisen, während des Jahrbuch "Tanz im Kopf" darüberhinaus auch die Rezeption des wichtigen, kürzlich erschienenen Buchs (Gerald Siegmund [Hg.]: William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin 2004) mit einschliesst (vgl. Maar) sowie den Impuls der im Dezember 2000 am Tanzarchiv Leipzig von Janine Schulze, Susanne Traub, Heike Albrecht und Arne Mutert organisierten internationalen Konferenz "MOVING THOUGHTS - TANZEN IST DENKEN" aufgreift.

Wie bereits Schulze damals fragte, wie sich die Wahrnehmungssituation des Tänzers beim aktiven Tanzen (sprachlich) formulieren liesse, geht auch JB in seiner Einleitung "Dance and Cognition" der Spur der "Wiedergabe" des Gedankenflusses-in-Bewegung wie auch der Spur des neueren synaesthetischen Forschungsinteresses an der Marginalisierung der Sinne und des Affekts nach, d.h. die Einleitung setzt Kognition als körperliche ("embodied", im Sinne der von Barrions Solano in die Diskussion gebrachten Diskurse von Varela/Maturana über biologische Intelligenz und dynamische Selbst-Organisation eines Systems) voraus und stellt dazu Überlegungen an über Erkenntnistheorien und parallele Wahrnehmungsformen bzw. die vernetzte Verarbeitung simultan wahrgenommener Sinneseindrücke, die sich im zeitgenössischen (multimedialen) Tanz und in komplexen künstlerischen Produktionsprozess als multisensuelle Informationsverarbeitung und -generierung am Beispiel des erweiterten Improvisationskunst-Begriffs bei Barrios Solano überprüfen liesse, aber auch bei der beobachtenden und pädagogischen Arbeit (vgl. Jola/Mast, Stevens/McKechnie, deLahunta/Barnard, Fleischle-Braun, Calvo-Merino/Haggard) und der experimentellen "Labor-Performancekunst" (Genderas "BrainDance"), die die Tänzerin, bzw. deren Gehirnströme, direkt an "Apparate" der Aufzeichung und visualisieruenden/sonifizierenden Technologie anschliesst. Gendera spricht in seinem Beitrag von den "Bildern aus der Wissenschaft": er fragt, wie Apparate sinnliche Wahrnehmung durch technische Sensoren und elektronische Signalverarbeitung auflösen, und damit als erweiterter Körper fungieren, und diese Suche nach dem erweiterten Tanz-Körper bzw. der Transformation von Kopf und Körper, von Geist, Physis und Motorik, birgt den gemeinsamen Nenner vieler Autorenbeiträge in diesem Jahrbuch, welche die verwirrenden Dichotomien zwischen Leib, leiblicher Wahrnehmung, Körperwissen, Bewusstsein , Gehirntätigkeit und verschiedenen "cognitive maps" zu reartikulieren oder überwinden suchen.

Last but not least versucht JF in ihrer Einleitung "Welcome to Dancylvania" einige weitere Aspekte von "Tanz im Kopf" zu thematisieren, über die keine Beiträge vorliegen (bzw. die zwischen den Beiträgen vermitteln und diese dramaturgisch verbinden sollen), um das Spektrum des Themas zu ergänzen und zu weiterer Forschung diesbezüglich anzuregen.

Hierzu gehört das kontext-bedingte Verständnis von Tanz, der Aspekt des Erinnerns in und durch Kopf und Körper sowie einige soziologische Details (so die ideologische Integration durch Tanz (Beispiel "Rocky Horror Picture Show", s. Vorwort JF) und die persönlichkeits- und bewusstseinsverändernde Wirkung des Tanzes (Beispiel "Rhythm is it", s. ebd.). Erfreulicherweise verweist der Beitrag von Hardt am Beispiel des Ausdruckstanzes auf einen historischen Ansatz dieses Aspekts. Und ebenso die wechselhafte produktions- und rezeptionsbedingte Definition des Tanzes; die wohl größten Extreme sind in dem unmittelbaren und verschwimmenden Übergang der Alltags- zur Kunstbewegung im Theatertanz zu suchen: lange bevor van Manen dieses Element in seinen Choreographien reflektierte, war es durch Fred Astaire auf das Spielerischste und Verblüffendste vielfach inszeniert worden…. Umgekehrt "tanzt" im postmodern dance und im zeitgenösisschen Konzepttanz lediglich die Intention der Künstler. (s. z. B. Yvonne Rainers, "Room Service" oderXavier le Roys, "Product of Circumstances").

Abschließend waren einige resümierende Gedanken über die Rezeption des Konzepttanzes geplant, die zentrale Publikationen zu diesem Thema befragen und versuchen, die Erscheinung dieser Tanzform in die zeitgenössische Tanzentwicklung - und in die wissenschaftliche Debatte über Tanz - einzuordnen. Da kein spezifischer Beitrag zur Diskussion (in Europa) über den "Konzepttanz" rechtzeitig vor Redaktionsschluss einging (vgl. allerdings Wittes Beitrag zur Arbeit von Felix Ruckert in Vietnam) , sind einige dieser Gedankengänge in die einleitenden Aufsätze der Herausgeber geflossen und werden z.B. in "Dance and Cognition" (JB) in den Kontext des zeitgenössischen Tanzes wie der verschiedenen Theoriemodelle und interdisziplinären Forschungsmethoden (vgl. Choreography and Cognition - Zusammenarbeit von Wayne McGregor/Random Dance Company mit Scott deLahunta und Psychologen des Cognition and Brain Science Instituts am Medizinischen Forschungszentrum Cambridge) gerückt.

Auch soll als ein Fazit der wissenschaftliche-intellektuelle Aspekt der neuentstandenen Tanzwissenschaft als zeitgenössisches Phänomen von (sic) Tanz und Wissenschaft gleichermaßen betont werden: denn ist so zum einen der "Kopf"-Aspekt des Tanzes endlich institutionell etabliert worden, erfährt zum anderen die Wissenschaft als Denken-in-Bewegung tänzerische Qualität… und so stellt sich die Frage, ob nicht z. B. der Konzepttanz und die wissenschaftliche Investigation der Tanzkonzepte einander ergänzende Komponenten einer zeitgenössischen Philosophie bzw. der absoluten Parallität von Tanz und Diskurs/Tanz und Theorie sind, die die klassische Dichotomie des westlichen Kopf-versus-Körper-Denkens (vgl. Kottow/Graf-Beitrag) zugunsten eines Tanzes im Kopf in Frage stellt.


27. April, 2005

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Brunel University, West London